Regelmäßig ruft bei uns das Call Center eines Inkasso-Büros an und bietet uns seine Dienste an. Am anderen Ende der Leitung spricht dann immer die selbe nette Dame – nennen wir sie Frau Müller –, die sich mir „mal wieder ins Gedächtnis rufen“ möchte. Wir hätten ja schon ein paar mal telefoniert und besprochen, dass sie sich bei mir in einigen Monaten wieder melden könne. Und ich denke mir: verdammt, ich habe sie nicht lange genug vertröstet.
Zwischen den Zeilen eines weiteren ganz netten aber erfolglosen Verkaufsgesprächs höre ich heraus: Brauchen Sie uns? Bitte, bitte, bitte! Das Problem: ich brauche kein Inkasso-Büro, nicht vor 6 Monaten, nicht vor 3 Monaten und auch nicht heute. Ich bin nicht die Zielgruppe. Frau Müller hat Pech. Ihre Mails verschwinden in den Tiefen meines Postfachs. Und ich habe mir nicht einmal ihren Namen gemerkt.
Den Weg der Zufallsakquise gehen noch immer viele Unternehmen. Vielleicht, weil es so einfach ist, den ersten Schritt zu tun. Alles, was man braucht, sind ein paar Adressen, vielleicht eine verheißungsvolle Branche und jemanden, der den Griff zum Hörer nicht scheut. Schon kann es losgehen mit dem „Vertrieb“.
Es ist eine Traumvorstellung, gezielt genau die Kunden anzusprechen, denen man etwas verkaufen möchte. Weil man weiß, dass sie Geld haben oder weil man einfach gehört hat, dass man sich spezialisieren sollte. Ich selber habe das auch einmal für ein paar Monate ausprobiert. Damals versuchte ich, eine bestimmte Online-Marketing-Leistung am Telefon zu verkaufen und dafür Termine mit Interessenten auszumachen.
Nach ein paar Wochen des Misserfolgs, der Abweisungen, „Neins“ und „Vielleichts“ und nur einer kleinen Hand voll Termine, vertiefte sich mein Verdacht: ich weiß überhaupt nicht, wen ich genau anrufen soll. Ich hatte mir zwar eine ganz bestimmte Branche herausgesucht, die als unterversorgt und zahlungsbereit galt. Ich hatte aber trotzdem keine Ahnung. Ich wusste nur, dass ich ein tolles Unternehmen, eine super Leistung im Rücken hatte und das musste doch wenigstens einer meiner Gesprächspartner pro Tag erkennen. Pustekuchen.
Damals saß ich im selben Boot mit Frau Müller vom Inkasso-Büro um die Ecke. Ich war einer von vielen in meiner Branche und hoffte, bei jemanden über Sympathie und Glück einen Treffer zu landen – auf Interesse zu stoßen.
Karsten Hutzler kennt die Probleme, die beim Verkaufen täglich tausendfach entstehen. Er hat selbst jahrelang Call Center aufgebaut und sammelt seit über 20 Jahren Erfahrung im strategischen Verkaufen:
Vertrieb ist in sehr vielen Unternehmen heute Energieverschwendung. Wenn ich nur von mir ausgehe, aber gar nicht genau weiß, wo die Kunden sind, die genau das brauchen, was ich habe, gleicht Akquise der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Weil sie sich diese Frage nicht beantworten, rufen Vertriebsmitarbeiter einfach unglaublich viele Leute an, werden sehr oft abgewiesen oder vertröstet. Da schießen Unternehmen oft mit Kanonen auf Spatzen und das ist ein riesiges Problem. Es wird viel Geld verbrannt und auch die Kunden werden verbrannt. Große Konzerne versauen sich ihren Namen, kleine Unternehmen scheitern in der Konkurrenz und gehen unter.
Hutzler sieht Probleme sowohl im veralteten Outbound-Vertrieb als auch in fehlender Strategie:
Die Branche bewegt sich nicht mit der Zeit, die Denkweisen und Ansätze sind veraltet. Früher konnte ich eine Mannschaft hinsetzen und zum Hörer greifen lassen, und schon wurde verkauft. Zu Zeiten des Wirtschaftswunders etwa, denn da wurde alles gebraucht. Die Leute wollten alles haben, weil niemand etwas hatte. Heute müssen wir Bedürfnisse zum Teil erst schaffen, damit wir etwas verkaufen können.
Ich muss mich im Vertrieb fragen, ob ich etwas habe, das der andere wirklich braucht. Wenn ich etwas besitze, das jemand anderes dringend benötigt, brauche ich nicht groß zu verkaufen. Die meisten Unternehmen sind stattdessen auf der Suche nach Star-Verkäufern, die rausfahren und massenweise Aufträge nach Hause bringen. Aber der Star-Verkäufer ist ein Mythos!
Ja, es gibt sehr gute Verkäufer, aber die sind handverlesen. Alle anderen müssen hoch professionell und analytisch arbeiten, um Vertrieb vernünftig aufzuziehen. Ich muss als Verkäufer zu dem Punkt kommen, bei jemandem zu stehen, der ein ganz bestimmtes Problem hat und ich habe die genau richtige Lösung für ihn. Dann können Unternehmen alle Instrumente ausreizen, die dem Vertrieb zur Verfügung stehen. Dazu zählt auf jeden Fall auch Inbound-Marketing.
Für einen Nutzen-zentrierten und effizienteren Vertrieb müssen nach Hutzlers Erfahrung gemeinsame Strategien entwickelt werden.
Vertriebsprobleme entstehen nicht in den Abteilungen, sondern zwischen den Abteilungen. Es wird zu kurzfristig gedacht. Der Vertrieb fragt sich oft: wie kann ich so viel wie möglich in kurzer Zeit rausholen? Das hat mit Vertrieb aber nichts mehr zu tun. Dann werden Call Center beauftragt und die rufen alle drei Monate bei Dir an, weil ihnen nichts besseres einfällt.
Immer mehr sehr erfolgreiche Unternehmen stellen statt blindwütigem Vertrieb den Kundennutzen in den Vordergrund und werden damit zu Kundenmagneten. Hutzler: “Im ersten Schritt interessieren dabei weder der Share Holder Value noch der Return On Invest. Langfristig erfolgreiche Unternehmen maximieren den Nutzen für ihre Zielgruppe, und dafür müssen die Leute im Unternehmen miteinander reden. In fast jeder Abteilung gibt es wertvolle Informationen, was Kunden wirklich brauchen und wie der Kundennutzen wirklich maximiert und kommuniziert werden kann. Wenn diese Informationen gemeinsam genutzt werden, können Unternehmen den Vertrieb effizienter machen. Inbound und Content Marketing wirken dann wie Verstärker, die einen Sog entstehen lassen und die genau passenden Kunden anziehen.
Unter Strategen und Vertriebsexperten ist Karsten Hutzler ist nicht der einzige, der fordert: Wer verkaufen will, muss den Kundennutzen nicht nur in den Mittelpunkt stellen, sondern stetig daran arbeiten, den Nutzen zu maximieren. Wenn die Abteilungen gut miteinander vernetzt sind, arbeitet die Produktentwicklung plötzlich dem Vertrieb in die Hände. Und das Marketing weiß mit größerer Sicherheit, was nötig ist, um die Zielgruppe zu aktivieren und Widerstände im Entscheidungsprozess abzubauen. „Was kann ich besser machen als alle anderen?“ und „Wie optimiere ich den Nutzen für meine Zielgruppe?“ fragen sich zum Beispiel Anwender der engpasskonzentrierten Strategie von Wolfgang Mewes.
Eine zentrale Aussage der Strategie im geschäftlichen Einsatz: Gewinnmaximierung funktioniert dauerhaft nur über Nutzenmaximierung. Inbound-Marketing konzentriert sich dann nicht mehr nur auf Traffic, sondern auf den genau richtigen Traffic und Anfragen, die das ganze Unternehmen weiterbringen und zu den größten Stärken des Unternehmens passen.
Abstrakte Lehren wie die EKS werden schnell greifbar, wenn sich Unternehmen Beispiele ansehen, in denen Inbound-Marketing wirklich gut funktioniert und dem Vertrieb die Suche nach der Nadel im Heuhaufen erspart. Hier wird nicht verkauft, sondern Nutzwert geboten und sichtbar gemacht. Wer gezielt Inhalte veröffentlicht und damit seine Zielgruppe mit den Themen anspricht, die er besonders gut lösen kann, bietet bereits vor dem ersten Vertriebskontakt zukünftigen Kunden einen größtmöglichen Nutzen im Entscheidungsprozess.
Was für den klassischen Vertrieb gilt, steht auch für das Online-Marketing fest. Unternehmen müssen genau wissen, wen sie ansprechen wollen und welche Probleme sie besser lösen als alle anderen. Das bestimmt, was zu veröffentlichen ist und welche Schritte im Online-Marekting zu gehen sind. Die gute alte Keyword-Analyse im SEO ist ein schönes Beispiel: Sie können sich bei Ihren Online-Marketing-Aktivitäten auf sehr allgemeine Begriffe konzentrieren und haben enormen Widerstand durch hohe Konkurrenz in den SERPs.
Oder sie analysieren gemeinsam mit Experten in Ihrem Unternehmen, was die schier unendlich große Longtail-Cloud an echten Einsichten mit Hinweisen auf Traumkunden bietet. Welche Themen und Begriffe geben Kunden ein, die auf ein brennendes Problem hindeuten, das Sie am allerbesten lösen können? Nuancen können entscheiden, ob ein Suchbegriff nur allgemein gemeint ist, oder ob ein Kunde damit etwas sucht, für das Sie der beste Ansprechpartner sind.
Je besser Ihre Inbound-Leads vorqualifiziert sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass jemand Ihrem Vertrieb eine echte Absage erteilt. Ein Kunde, der erkennt, dass nur Sie seinen größten Engpass lösen können, sagt nicht „nein“. Er sagt im schlimmsten Fall nur heute noch nicht „ja“.
Aber natürlich ist die Konkurrenz zwischen Unternehmen mit Inbound-Marketing nicht aus der Welt. Gewonnene Leads können noch immer verloren gehen. Aber selbst Interessenten, die Sie zunächst nicht in Kunden verwandeln, sind noch immer Interessenten. Solange Ihre Kontakte Sie als Informationsquelle ernst nehmen, sind sie potenzielle Kunden. Und solange Sie nicht in die alten Muster der Kaltakquise verfallen, nerven Sie keinen Interessenten, sondern bauen mit relevanten Inhalten eine langjährige Beziehung auf. Die trägt früher oder später Früchte.
Dieser Artikel erschien erstmals im September 2015. Wir haben ihn aktualisiert und zur besseren Verständlichkeit überarbeitet.