Schlechte Nachrichten: Die Zauberformel der berühmten Unicorn-Start-ups wie Airbnb, Booking, Slack, Dropbox, Uber oder Facebook war leider nicht nur ein ganz bestimmter Growth- oder Marketing-Hack, der die Gründer über Nacht zu Millionären gemacht hat.
Woher ich das weiß? Meine 12 Jahre Erfahrung als Growth-Hacking-Coach für über 250 Start-ups sowie großen Unternehmen haben mir gezeigt, dass Growth Hacker und deren Teams sich vor allem zwei Fähigkeiten aneignen müssen:
- Sie müssen ein Mindset etablieren, bei dem ständiges Lernen und Optimieren den Alltag bestimmen. Teams müssen getrieben sein von dem Gedanken, das Unternehmenswachstum voranzubringen. Spricht man bei Sportlern und Teams von einer Gewinner-Mentalität, so bezeichne ich das im Berufsleben als Growth-Hacking-Mindset mit radikalem Fokus auf die Umsetzung.
- Die Fähigkeit, sich im Rahmen eines kontinuierlichen Prozesses zwischen Zielsetzung, Planung, Umsetzung, Messung und Optimierung neuer Ideen zu bewegen. Das Ganze in Hochgeschwindigkeit und damit bedeutend schneller als die Konkurrenz. Wachstum überlässt man nicht dem Zufall. Wachstum ist ein Prozess.
Disclaimer: Was ist Growth Hacking (nicht)?
Schauen wir uns die einzelnen Bestandteile des Begriffs Growth Hacking einmal kurz im Detail an:
Growth – ist das englische Wort für Wachstum, Anstieg oder Zunahme. Dies kann eine Steigerung der Reichweite, der Nutzeranzahl, der Kundenanzahl, des Umsatzes oder natürlich auch eine Steigerung des Customer Lifetime Value (=der Gesamtwert, den ein Kunde für ein Unternehmen generiert) sein.
Hacking – „To hack into a system“ ist der englische Begriff für „in ein System eindringen“. Dabei ist enorm wichtig zu verstehen, dass ein Hacker immer ein bestimmtes Ziel verfolgt und verschiedenste Methoden ausprobiert, um in das Zielsystem einzudringen. Ein Hacker muss sich dabei nicht an vorgegebene Prozesse halten. Vielmehr muss er wirklich alles ausprobieren, um sein Ziel zu erreichen. Hier sind viel Erfahrung, Know-how, Ausdauer, die richtigen Werkzeuge und Tools sowie Kreativität gefragt. Ein Computerhacker ist dafür ein passendes Beispiel. Mal abgesehen von der kriminellen Energie, die bei diesen Hackern oftmals vorherrscht.
Damit sind wir auch schon bei der Abgrenzung von der Disziplin des Growth Hacking – im Klartext: „Was ist Growth Hacking NICHT?”.
- Growth Hacking hat nichts mit „schnell reich werden im Internet” zu tun. Es geht darum, einer Idee, einem Start-up oder einem bestehenden Geschäft einen substanziellen und vor allem nachhaltigen Schub zu verleihen. Nachhaltiges Wachstum ist dabei viel wichtiger als kurzfristige Erfolge.
- Growth Hacking ist kein reiner Marketing-Ansatz, auch wenn das so leider immer noch im Wikipedia-Eintrag vermerkt ist. Growth Hacking ist disziplinübergreifend entlang der gesamten Customer Journey. Dies kann sowohl Offline- und Online-Berührungspunkte mit Kunden, als auch Maßnahmen zur Gewinnung von Neukunden, zur Steigerung des Umsatzes durch Bestandskunden (Stichwort: Customer Success Management) oder aber auch zur effizienteren Arbeit im Team betreffen.
- Growth Hacking funktioniert nicht nur für B2C (Business-to-Customer) wie die bekannten Beispiele von Dropbox, Facebook, Hotmail und Co. erahnen lassen könnten. Die besondere Herausforderung im B2B-Bereich liegt darin, ein System zu entwickeln, mit dem man eine meist sehr spezifische B2B-Zielgruppe, bestehend aus mehreren Entscheidungsträgern in einem Unternehmen, Schritt für Schritt an ein Produkt heranführt, statt direkt mit einem Angebot zu konfrontieren.
Der Growth-Hacking-Prozess V3.0
„Growth Hacking ist ein kontinuierlicher Prozess aus Versuch und Irrtum, mit dem Unternehmen neue Ideen in Hochgeschwindigkeit umsetzen und auf dem Markt testen können. Der Ideenhorizont streckt sich dabei über Marketing, die Produktentwicklung, Technologiekompetenz und die Teamorganisation.”
Der „Growth-Hacking-Prozess V 3.0“ dient mittlerweile schon über 1.000 Start-ups und Unternehmen in ganz Europa als Schritt-für-Schritt Anleitung für systematisches Wachstum. Aber wie ist dieses Modell bestehend aus den vier Bereichen Idea Validation, Product Market Fit, Growth-Marketing und High-Speed-Umsetzung anzuwenden?
[Der Growth-Hacking-Prozess V3.0]
Phase 1: Validieren Sie Ihre Ideen, bevor es wirklich losgeht
Am Anfang steht immer nur eine Idee, von der wir leider nicht wissen können, ob sie funktioniert. Eine Idee kann eine neue Geschäftsidee sein, eine neue Kampagne, eine Optimierung der Website, ein neues Produkt, eine neue Zielgruppe, ein neuer Marketing-Kanal, etc.
Aber wie lässt sich herausfinden, ob eine Idee erfolgsversprechend ist oder nicht? Ganz einfach: Man muss sie möglichst schlank, schnell und günstig ausprobieren. Dazu hilft anfangs die Beantwortung der folgenden Fragen:
- Welches Problem wollen wir lösen?
- Wer ist die perfekte Zielgruppe für den Lösungsansatz?
- Was ist die skizzierte Lösung?
- Wie sieht der Wettbewerb aus?
- Wie können wir die Idee mit maximaler Geschwindigkeit auf dem Markt testen?
Auf Basis der Antworten auf diese Fragen erstellen wir eine erste Website und versuchen, die ersten 100 Interessenten, Leads, Kunden oder Kunden-Feedbacks zu bekommen. Dabei lautet die Devise, mit den Kunden zu sprechen, um echtes Feedback zu bekommen, statt immer weiterzuarbeiten und weiter zu optimieren, ohne externes Feedback einzuholen. Das ist leider oft schwierig, da man ständig das Gefühl hat, dass der aktuelle Stand noch nicht gut genug ist …
Um dies zu vermeiden, sollte man versuchen, jede Idee in möglichst kleine Projektschritte zu unterteilen und die Zielgruppe so schnell es geht mit den ersten Skizzen oder Prototypen zu konfrontieren. Dazu kann es ausreichen, „Fake it until you make it“-Websites oder Click-Dummies zu erstellen, die nur dafür gemacht sind, Stimmungen der Zielgruppe einzuholen und bestenfalls die ersten Leads einzusammeln. Auch Crowdfunding-Plattformen wie Kickstarter und Co. können dafür hilfreich sein.
Phase 2: Der Product Market Fit
Das perfekte Produkt, das perfekte Feature oder die perfekte Kampagne zu bauen, muss der Anspruch einer jeden Idee sein, das ist klar. Aber auch mit Hilfe eines ersten Prototypen (MVP = Minimum Viable Product) lassen sich schon die ersten Kunden gewinnen. Mit deren Feedback lassen sich dem Produkt dann schnell weitere Features oder Ausbaustufen hinzufügen. Ziel der Phase „Product Market Fit“ ist der erste echte zahlende Kunde, der zehnte und dann vielleicht der hundertste Kunde. Je nachdem, in welcher Branche wir unterwegs sind beziehungsweise in welcher Phase sich eine Idee befindet. Es wird also ernst. Spätestens in dieser Phase scheitern die meistens Start-ups, weil sie nicht in der Lage sind, die ersten Kunden für ein Produkt zu finden, mit deren Hilfe sie dann weiterlernen und weiterwachsen können. Notwendig sind in dieser Phase vor allem:
- eine glasklare Positionierung,
- ein Wertversprechen („Value Proposition“),
- Klarheit über die Zielgruppe,
- eine Validierung des Geschäftsmodells bzw. der Preisgestaltung,
- eine gut getestete Website.
Product Market Fit messen?
Die Phase des Produkt-Market Fit dient dazu, eine „vernünftige” Anzahl Kunden für ein Produkt zu gewinnen, die auch wirklich mit dem Produkt zufrieden sind. Zufrieden bedeutet in diesem Fall laut Growth-Hacking-Erfinder Sean Ellis, dass sich die Antworten von Nutzern auf die Frage „Wie fänden Sie es, wenn Sie dieses Produkt nicht mehr nutzen könnten?“ folgendermaßen verteilen:
„Wenn über 40 % der Befragten angeben, dass sie äußerst enttäuscht wären, kann man davon ausgehen, dass der Product Market Fit stimmt. Sind es weniger, stimmt er nicht.“
Ist diese Hürde genommen, geht es weiter mit der Growth-Marketing-Phase.
Phase 3: Skalieren mit Growth-Marketing
Beim Growth-Marketing geht es darum, einen reproduzierbaren Marketingkanal zu finden, mit dem man mit einer positiven Rendite (Return on Investment, ROI) neue Nutzer bzw. neue Kunden gewinnen kann. Jetzt gilt es, zu skalieren!
Aber mit welchem Marketingkanal sollten wir anfangen? Wo finden wir unsere typische Zielgruppe und wie können wir sie dort ansprechen? Sind es die sozialen Netzwerke wie Facebook, Instagram, YouTube, LinkedIn, Pinterest und Co.? Oder doch eher die fast schon klassischen Kanäle wie E-Mail-Marketing, Google (SEO und SEM) oder sogar die gute alte Pressearbeit?
Darauf gibt es leider keine pauschale Antwort, aber es lässt sich mit kleinen Experimenten testen. Inzwischen haben wir einige Erfahrungswerte und starten mittlerweile fast immer, wenn nicht zu 100 % etwas dagegen spricht, auf Facebook und Instagram.
Warum? Weil man mit Facebook und Instagram so unglaublich schnell einen Beitrag bzw. eine Anzeige erstellt hat, dass man schon in wenigen Stunden den ersten Traffic generieren kann. Vor einigen Jahren, als es die Google Ads noch nicht gab, war das so nicht möglich. Das darf man nicht vergessen. Oder anders ausgedrückt: Das muss man jungen Online-Marketern immer mal wieder erklären, die sich diese Welt gar nicht vorstellen können.
Nachdem Traffic generiert wird, gilt es herauszufinden, ob er hochwertig ist und zu Conversions führt. Aber generell kann man rasend schnell Traffic generieren, um erste Hypothesen zu validieren und in Erfahrung zu bringen, ob ein Kanal funktionieren kann oder eben nicht. Genau das benötigen wir beim Growth Hacking.
Wichtig: Nur weil wir in 90 % unserer Projekte mit Facebook und Instagram beginnen bedeutet das nicht, dass das auch immer funktioniert oder wir die anderen Kanäle außen vor lassen. Viel mehr haben wir herausgefunden, dass die meisten Zielgruppen, auch im B2B-Bereich, in den großen sozialen Netzwerken anzutreffen sind. Auch wenn viele das immer noch nicht glauben.
Wie lassen sich Produkte via Social Media verkaufen?
Der Social Media Funnel
Die Lösung: Wir dürfen nicht zu schnell mit Beiträgen und Kampagnen beginnen, die den Kauf unserer Produkte bewerben. Menschen sind auf den Social-Media-Portalen, um sich unterhalten zu lassen. und nicht. um etwas zu kaufen. Dieses Verständnis ist für erfolgreiches Social-Media-Marketing essenziell.
Die Lösung liegt darin, einen sogenannten Content-Marketing-Trichter bzw. Funnel aufzubauen. Das bedeutet, im ersten Schritt produzieren wir ein Stück Content, das in den sozialen Netzwerken Aufmerksamkeit generiert. Dies ist nicht dafür gedacht, Verkäufe anzuregen, sondern einzig und allein dazu, Nutzer dazu zu bringen, damit zu interagieren. Etwa, indem sie die Beiträge liken, kommentieren oder einfach nur konsumieren. Die Nutzer wollen unterhaltenden oder informierenden Content sehen. Das ist auch der Grund, warum Katzenvideos oder die Fail Army so unfassbar gut funktionieren. Was bedeutet das für unseren Content?
Alles, was wir in sozialen Netzwerken teilen, konkurriert mit Katzenvideos. Also müssen unsere Content-Formate im ersten Schritt deutlich mehr nur auf Unterhaltung und Information abzielen, als auf den Verkauf. Diese erste Phase nennt man „Awareness” (Bewusstsein, Wahrnehmung).
Nutzer, die mit diesem Content interagieren, werden im nächsten Schritt durch Retargeting mit weiterem Content versorgt. Dieser dient aber wieder nicht zum Verkauf, sondern dazu, Nutzern zu zeigen, dass wir eine Lösung für ihre speziellen Probleme haben. Diese zweite Phase nennt man „Consideration“ (Überlegung). Und jetzt kommt der Clou: Die Nutzer, die auch mit diesem Content intensiv interagieren (zum Beispiel, indem sie sich ein Video zu 100 % angeschaut oder einen Blogartikel gelesen haben), bekommen im letzten Schritt eine Anzeige, in der dann endlich das Produkt angeboten werden kann. Diese dritte Phase nennt man „Conversion“ (Konversion, Konvertierung).
Mit diesem 3-stufigen Prozess lässt sich sicherstellen, dass nur solche Verbraucher die „Verkaufsanzeige” angezeigt bekommen, die auch zur Zielgruppe gehören. Sonst hätten sie sicher nicht dreimal mit zunehmend produktspezifischem Content interagiert.
Beim Aufbauen eines Trichters ist vor allem das richtige Mindset gefragt (siehe oben). Die ersten Inhalte werden garantiert noch nicht funktionieren. Hier gilt es, entsprechend zu experimentieren, um die Logik bzw. die Geschmäcker der Zielgruppe zu verstehen und ihnen die Inhalte zur Verfügung zu stellen, die sie eben als Nächstes brauchen, um letztendlich eine Kaufentscheidung zu treffen. Echter Vertrieb eben, aber eben online und ohne direkten Kundenkontakt.
[Beispiel: Social Media Funnel]
Valides Tracking
Natürlich gibt es noch unzählige weitere Marketing-Kanäle wie Google Ads, Pinterest Ads, eBay, Amazon, E-Mail-Marketing usw. Es empfiehlt sich, diese weiteren Kanäle mit kleinen hypothesenbasierten Tests ebenfalls auszutesten.
Um dann auch wirklich valide Aussagen treffen zu können, benötigen wir ein funktionierendes Tracking-System, sodass wir genau einsehen können, welche Nutzer auf welche Aktionen reagiert haben. Vor allem im B2B-Bereich ist das Erfassen von E-Mail-Adressen als Lead-Informationen hier das A und O.
Mit Tracking-System ist jedoch nicht ein einzelnes Tool wie Google Analytics sondern das Zusammenspiel verschiedener Tools gemeint. Um den gesamten Kaufprozess vom ersten Kontakt mit bestimmten Inhalten über einen zweiten Kontakt, die erste Konversion und die Erfassung der Lead-Informationen bis hin zur Konversion zum Kunden nachzuverfolgen, werden in den meisten Fällen verschiedene Tools zum Einsatz kommen: CRM-Systeme, E-Mail-Tools, Tools für A/B-Tests, Web-Tracking, und mehr …
Phase 4: High-Speed-Umsetzung
Schaffen wir es, ein Team mit dem richtigen Mindset, den notwendigen Skills und Tools auszustatten, sowie den Growth-Hacking-Prozess für neue Ideen kontinuierlich anzuwenden, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, Kunden bessere Produkte und zielgerichtetere Kampagnen anbieten zu können. Das wiederum führt zu Wachstum. Klingt logisch, ist es aber in der Realität leider nicht. Wir alle haben leider noch 100 andere Dinge zu tun, die uns vom Growth Hacking abhalten. Vor allem in größeren Unternehmen, wo festgefahrene Strukturen vorherrschen.
Wie kann man mit Growth Hacking starten?
Meine persönliche Empfehlung ist die Investition in das Mitarbeitertraining. Das gilt gleichermaßen für Start-ups, als auch für die Führungskräfte und Mitarbeiter größerer Unternehmen.
Wie lernt man die notwendigen „Growth-Hacking-Fähigkeiten” am besten? Indem man sie mit echten Beispielen aus der Praxis veranschaulicht und dann direkt versucht, sie auf sich selbst anzuwenden. Vor allem in großen Unternehmen sind dafür leider oftmals neue Tools, eine neue Team-Ausrichtung oder auch einfach nur das „Ok” von oben notwendig. Ohne die geht es leider mal wieder nicht. Start-ups haben es da deutlich einfacher, zumindest sofern sie mit dem richtigen Mindset ausgestattet sind.
Der richtige Prozess, das richtige Mindset, das Team mit den besten Fähigkeiten und eine ganze Palette herausragender Tools – das sind die Zutaten für eine erfolgreiche Growth-Hacking-Strategie. Fehlt noch was?
Ja, leider. Einmal ist leider keinmal. Genau wie man auch von einem einmaligen Fitnessstudiobesuch noch keine dicken Muckis bekommt.
Deswegen müssen Growth-Hacking-Initiativen idealerweise mindestens einmal monatlich wiederholt werden – vor allem, wenn ein Unternehmen bei der Einführung von Growth Hacking noch ganz am Anfang steht. Am besten erstellt man eine erste Roadmap für die nächsten drei Monate. Diese beinhaltet alle Meilensteine, Ideen und vor allem die Growth Hacks, die gerade in der Umsetzung sind. So behalten sämtliche Beteiligten (auch die Stakeholder) den Überblick und können bei laufenden Ideen immer mitentscheiden, wie es weitergeht.
Nur so können die Teams auch ein Gefühl dafür bekommen, wie man mit einer ständigen Optimierung am Ende schneller vorwärts kommt, als mit den großen Projekten, die monatelang in der Blackbox entwickelt werden – d. h. ohne echtes Kundenfeedback einzuholen.
Nach drei Monaten haben sich erfahrungsgemäß erste Routinen entwickelt, sodass die Initiativen gut laufen und man überlegen kann, die Laufzeiten zu verkürzen und die Anzahl der Initiativen zu erhöhen.
Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Gastbeitrag von Hendrik Lennarz, Autor des ersten deutschsprachigen Buchs über Growth Hacking.