Bei den meisten Menschen ist die Angst vor Verlust größer als die Freude, wenn sie etwas gewinnen – das ist wissenschaftlich belegt. Damit stellt die Verlustaversion eine scheinbar unüberwindbare Herausforderung für Marketing und Vertrieb dar. Wie Sie sich den Effekt jedoch zunutze machen können und den Kauf Ihrer Produkte nicht wie einen finanziellen Verlust wirken lassen, erfahren Sie hier.

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Kognitive Verzerrung: Der Homo Oeconomicus hat ausgedient

Der Homo Oeconomicus („wirtschaftlich denkender Mensch“) war und ist noch immer eines der wichtigsten Modelle in den neoklassischen Wirtschaftswissenschaften. Die Theorie geht davon aus, dass Menschen stets rational und nutzenmaximierend handeln.

Neue Forschungen und Theorien zeigen jedoch, dass Irrationalität eine wesentliche Rolle beim Kaufverhalten spielt. Denn Kaufentscheidungen werden zum größten Teil im limbischen System, also dem emotionalen Teil des Gehirns, verarbeitet.

Mit diesem Wissen müssen sich Marketeers in die Gefühlswelt und Psyche der Konsumenten und Konsumentinnen denken. Dabei gilt es jedoch nicht nur, die positiven Gefühle im Blick zu haben, auch negative Emotionen müssen verstanden werden, um alle Möglichkeiten auszuschöpfen und die Kundschaft als Ganzes zu verstehen.

Verlustaversion: Definition und Ursache

Bei der Verlustaversion (englisch: Loss Aversion) handelt es sich um ein psychologisches Phänomen, bei dem Menschen Verluste stärker empfinden als Gewinne. Diese Abneigung gegen Verluste wurde 1979 in der Prospect Theory (deutsch: Erwartungstheorie) von den Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky beschrieben.

Ursache für die Verlustaversion sehen Forschende in der Evolution, genauer genommen in der Zeit des Jagens und Sammelns. Damals war der einzige Gewinn, den es gab, die Nahrungsbeschaffung. Doch wenn mehr Nahrung zur Verfügung stand, konnte natürlich nicht unbedingt mehr gegessen werden. Wurde stattdessen nichts erbeutet oder gesammelt, so mussten die Menschen hungern. Der Verlust war demnach wesentlich schmerzlicher als der Gewinn.

Neuere Studien zeigen, dass die Verlustaversion bei Männern und Frauen gleich groß ist, sie im Alter jedoch zunimmt. Es lässt sich außerdem nachweisen, dass mit steigendem Bildungsstand die Angst vorm Verlust weniger wird.

Wie funktioniert die Verlustaversion?

Um die Verlustaversion genauer zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass Menschen bei Risikoentscheidungen einen Status quo als Referenzpunkt festlegen. Sobald der Wert der Entscheidung über dieser Referenz liegt, nehmen wir das Ereignis als Gewinn war. Liegt er darunter, so handelt es sich um einen Verlust.

Mathematisch lässt sich dabei feststellen, dass Gewinnkurven konvex und Verlustkurven konkav verlaufen. Das bedeutet, dass das Schmerzempfinden stärker ansteigt als das Empfinden von Gewinnen. Jedoch zeigen die Experimente von Kahneman und Tversky auch, dass der Schmerz über den Verlust abflacht, wenn eine Person wiederholt etwas verliert.

Gleichzeitig führt Kahneman jedoch an, dass Menschen sehr risikofreudig sind. Allerdings werden Risiken nur dann eingegangen, wenn der Gewinn mindestens doppelt so groß ist wie der mögliche Verlust.

Verlustaversion-Beispiele: Vom Casino bis zu IKEA

Seien Sie mal ehrlich: Sie spielen in einem Casino Roulette und gewinnen nach der ersten Partie 20 Euro. Die zweite Runde fällt nicht zu Ihren Gunsten aus und Sie verlieren die 20 Euro wieder. Welche der beiden Situationen bringt Sie emotional mehr aus dem Gleichgewicht? Für die meisten Menschen wäre es wohl der Verlust von 20 Euro.

Diese These bestätigte Kahnemann mit seinen Experimenten, in denen er die Gewichtung möglicher Lotterieausgänge untersuchte. Er stellte fest, dass sich die 50-prozentige Chance eines Verlustes von 100 Dollar nur mit einer 50-prozentigen Chance eines Gewinns von 200 Dollar aufwerten ließ. Bei den meisten seiner Experimente lag die Verlustaversionsrate somit bei 1,5 bis 2,5. Dieses Beispiel lässt sich auch beim Aktienhandel an der Börse beobachten.

Die Theorie des Besitztumeffektes (auch: Endowment Effekt) führt diesen Gedanken noch weiter aus. Demnach schreiben Menschen Gütern, die sie besitzen, einen höheren Wert zu, als solchen, die sie nicht besitzen. Deshalb ist auch der Verlust dieser Güter besonders schmerzlich. Der Möbelhersteller IKEA hat sich dieses Prinzip zunutze gemacht: Weil Käufer und Käuferinnen die Möbelstücke selbst zusammenbauen, schreiben sie den Möbeln einen höheren Wert zu, als fertigen Produkten.

Best Practice: Verlustaversion im Marketing

Betrachten wir die Verlustaversion aus Sicht des Marketings, so steht leider fest: Unternehmen sorgen bei ihrer Kundschaft für einen finanziellen Verlust.

Genau deshalb setzen Marketerinnen und Marketer immer häufiger auf Werbeanzeigen, die ihrer Kundschaft signalisieren, dass sie etwas verpassen, wenn sie ein Produkt nicht erwerben.

Hier wird das Hintertürchen der Verlustaversion-Psychologie genommen: Denn anstatt die Zielgruppe auf den Verlust des Geldes aufmerksam zu machen, wird der Fokus vielmehr auf den Verlust eines Angebotes oder aber den Gewinn von Rabatten gesetzt.

Mögliche Methoden und Maßnahmen, die im Neuromarketing dafür genutzt werden, sind:

  • Gutschein- sowie Rabattaktionen
  • Exklusiv-Angebote
  • Maßnahmen zur Unterstützung von FOMO (Fear Of Missing Out, die Angst vorm Verpassen)
  • Knappheit und Dringlichkeitsprinzip
  • Retargeting oder Warenkorbabbrecher-Mails
  • Kostenlose Testversionen

Mit den folgenden Best Practices können Sie die Verlustaversion Ihrer Zielgruppe zu Ihrem Vorteil machen.

1. „Verpassen Sie nicht diesen einzigartigen Deal.“

Die Angst davor, etwas zu verpassen, haben wir wohl alle schon einmal erlebt. Im Marketing können Sie sich das Prinzip zunutze machen, indem Sie Ihre Newsletter-Abonnenten beispielsweise auf besondere Angebote aufmerksam machen. Das Schmucklabel BRUNA gibt seiner Kundschaft zum Black Friday beispielsweise die Möglichkeit, sich auf eine Liste setzen zu lassen, um einen frühzeitigen Zugang zu allen Rabatten zu erhalten.

Screenshot Verlustaversion-Beispiel fruehzeitiger Zugang

Quelle: Screenshot aus einem Newsletter von BRUNA

2. „Nur noch X Produkte verfügbar.“

Wenn Marketing-Aktionen das Prinzip der (künstlichen oder realen) Verknappung oder Dringlichkeit nutzen, wird ganz klar die Verlustaversion adressiert. Denn das Gefühl, sich ein Angebot durch die Lappen gehen zu lassen, führt häufig dazu, dass sich Kunden und Kundinnen schneller für den Kauf entscheiden.

Die Reiseplattform Booking.com zeigt deshalb eine genaue Zahl an, wie viele Angebote zu einem gewissen Preis noch verfügbar sind. Die Farbe Rot signalisiert zusätzlich, dass sich Buchende hier schnell entscheiden müssen, um den Preisvorteil nicht zu verlieren.

Screenshot Verlustaversion-Beispiel Angebotsmenge

Quelle: Screenshot Booking.com

3. „Sie haben ein Produkt im Warenkorb vergessen!”

Eine weitere Möglichkeit, Kunden und Kundinnen vor einem Verlust zu bewahren, ist die Warenkorberinnerung. Wurde ein Einkauf noch vor Bestellung abgebrochen, fassen Onlinehändler oft nach, indem sie kurze Zeit später einer Erinnerungs-E-Mail senden, oft in Kombination mit einem Gutschein.

Um sicherzugehen, dass sie nichts verpassen und die vermeintlich exklusiven Angebote nutzen, führen viele Interessierte die Bestellung dann doch noch aus. Da die durchschnittliche Rate des Warenkorbabbruchs bei knapp 70 Prozent liegt, setzen viele Shops auf diese Reminder – mit Erfolg.

Fazit: Mildern Sie die Angst vor einem Verlust durch Neuromarketing

Der psychologische Effekt der Verlustaversion kann Marketern und Vertrieblerinnen ein Bein stellen. Denn die Werbepsychologie zeigt, dass der Verlust von Geld für Konsumenten und Konsumentinnen schwerer gewichtet wird als der Gewinn eines neuen Produktes. Doch genau diese Angst vor Verlust können Sie auch zu Ihrem Vorteil nutzen. Durch das Prinzip der Verknappung, kostenlose Testversionen oder exklusive Angebote drehen Sie den Spieß um und machen das Phänomen der Verlustangst zu Ihrem Vorteil.

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Titelbild: Tom Werner / iStock / Getty Images Plus

Ursprünglich veröffentlicht am 21. Dezember 2022, aktualisiert am Januar 21 2023

Themen:

Neuromarketing